amnesty international Deutschland


ai Jahresbericht 2002



Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2001
LIBYEN



Amtliche Bezeichnung: Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamarihiya
Staatsoberhaupt: Muhammar al-Gaddafi
Hauptstadt: Tripolis
Einwohner: 5,4 Millionen
Amtssprache: Arabisch
Todesstrafe: nicht abgeschafft


     

Zahlreiche politische Gefangene wurden freigelassen, Hunderte andere hingegen, unter ihnen gewaltlose und mögliche gewaltlose politische Gefangene, blieben vielfach ohne Anklageerhebung oder Prozess inhaftiert. Ungefähr 150 vermeintliche Oppositionelle wurden unter der Anklage der Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation vor Gericht gestellt. Im Prozess gegen zwei Libyer, die angeklagt worden waren, einen Sprengstoffanschlag auf ein Verkehrsflugzeug über dem schottischen Lockerbie verübt zu haben, wurden die Urteile gefällt. Einer von ihnen wurde freigesprochen, der andere zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Prozess gegen sechs bulgarische Staatsbürger und einen Palästinenser, die man beschuldigt hatte, Kinder mit dem HI-Virus infiziert zu haben, dauerte an. Das Schicksal der Menschen, die in vorangegangenen Jahren »verschwunden« waren, blieb weiterhin ungeklärt.

Hintergrundinformationen

Die Freiheit der Meinungsäußerung blieb weiterhin stark eingeschränkt. Libysche Gesetze verbieten die Bildung von politischen Parteien und Kritik am politischen System. Die Medien unterlagen nach wie vor einer strikten Zensur durch die Regierung.

Politische und gewaltlose politische Gefangene

Ende August verkündete die Internationale Gaddafi-Stiftung für Wohltätigkeit unter dem Vorsitz von Saif al-Islam Gaddafi, dem Sohn von Staatschef Oberst Mu'ammar al-Gaddafi, die Freilassung zahlreicher politischer Gefangener. Anlass war der 32. Jahrestag der Revolution, die Oberst Gaddafi an die Macht gebracht hatte. Die Stiftung veröffentlichte eine Liste von 107 freigelassenen Gefangenen, unter denen sich über 20 Männer befanden, die seit 1984 inhaftiert waren. Damals waren die Behörden nach einem Angriff auf die Bab-al-'Aziziya-Kaserne in Tripolis massiv gegen Regierungsgegner vorgegangen. Mitte September kam es zu weiteren Freilassungen politischer Gefangener. Die Behörden behaupteten indes weiterhin, dass es in Libyen keine politischen Gefangenen gäbe.

Hunderte von politischen Gefangenen, die in den vergangenen Jahren festgenommen worden waren, unter ihnen gewaltlose politische Gefangene, verblieben in Haft, viele von ihnen ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverhandlung.

Libyens am längsten inhaftierter politischer Gefangener, Ahmad al-Zubayr Ahmad al-Sanussi, kam im August frei. Er war 31 Jahre lang inhaftiert gewesen, nachdem er 1970 der Teilnahme an einem versuchten Staatsstreich beschuldigt worden war, und hatte viele Jahre in Einzelhaft verbracht.

Der Zahnarzt 'Omran 'Omar al-Turbi, verheiratet und Vater zweier Kinder, wurde im August nach 17-jährigem Gefängnisaufenthalt freigelassen. Er war 1984 gemeinsam mit Hunderten anderen Personen festgenommen worden, die die Behörden der Mitgliedschaft in der Nationalen Front für die Rettung Libyens verdächtigt und ohne Anklageerhebung oder Prozess in Gewahrsam gehalten hatten.

Fünf gewaltlose politische Gefangene, unter ihnen Muhammad 'Ali al-Akrami und 'Abd al-Rahman al-Azhari, die 1973 festgenommen und der Mitgliedschaft in der verbotenen Islamischen Befreiungspartei für schuldig befunden worden waren, verbüßten im Abu-Salim-Gefängnis weiterhin die gegen sie verhängten lebenslangen Haftstrafen.

Politische Prozesse

Mehrere Gruppen von Männern und Frauen wurden von Gerichten verurteilt, deren Verfahren nach wie vor internationalen Standards für faire Prozesse nicht entsprachen.

Der Prozess gegen vermeintliche Oppositionelle

Im März begann ein Prozess gegen ungefähr 150 Personen, darunter Ingenieure, Ärzte und Universitätsdozenten. Die meisten waren im Juni 1998 unter dem Verdacht festgenommen worden, die in Libyen verbotene Libysche Islamische Gruppe zu unterstützen oder mit ihr zu sympathisieren. Nach Kenntnis von amnesty international hat diese Organisation Gewalt weder angewandt noch befürwortet. Die Angeklagten hatten sich bis zur Eröffnung ihres Prozesses ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft befunden. Berichten zufolge durften sie keinen Rechtsanwalt eigener Wahl mit ihrer Verteidigung betrauen und selbst nach Prozessbeginn mehrere Monate lang nicht von ihren Familienangehörigen besucht werden.

Der HIV-Prozess

Der Prozess gegen sieben im Gesundheitsdienst beschäftigte Personen, sechs Bulgaren und ein Palästinenser, die im Februar 2000 vor dem Volksgerichtshof angeklagt worden waren, vorsätzlich 393 libysche Kinder mit dem HI-Virus infiziert zu haben, war Ende des Berichtszeitraums noch nicht abgeschlossen.

Die Angeklagten sagten aus, ihre Geständnisse seien unter Folter erzwungen worden, und gaben weiter an, dass sie sogar vor Gericht mit elektrischen Kabeln geschlagen und mit Elektroschocks gequält worden seien. Eine Untersuchung ihrer Vorwürfe hat nicht stattgefunden.

Das Gericht lehnte es Berichten zufolge ab, Sachverständigen für Virologie die Aussage zu gestatten, wie es durch die Verteidigung beantragt worden war. Die Anklageschrift besagte, dass die den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen Teil eines Versuches gewesen seien, den libyschen Staat zu destabilisieren. Bei einer Gipfelkonferenz über Aids, die im April in Nigeria stattfand, hielt Oberst Gaddafi eine Rede, in der er vorbrachte, dass die Angeklagten die Kinder auf Anweisung des US-amerikanischen oder israelischen Geheimdienstes infiziert hätten.

Prozesse gegen libysche Staatsangehörige im Ausland

Der Lockerbie-Prozess

Im Januar erging das Urteil in einem in den Niederlanden geführten Prozess gegen zwei Libyer, die angeklagt waren, in einem Flugzeug der US-amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am eine Bombe platziert zu haben, die im Dezember 1988 über der schottischen Stadt Lockerbie explodiert war und 270 Menschen getötet hatte. Während Al-Amin Khalifa Fhimah freigesprochen wurde, befand das Gericht Abdel Basset Ali al-Megrahi für schuldig und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Über seine Berufung sollte 2002 verhandelt werden.

Der Sprengstoffanschlag auf eine französische Verkehrsmaschine

Das Kassationsgericht, der oberste Gerichtshof Frankreichs, entschied, dass Oberst Gaddafi im Zusammenhang mit dem Sprengstoffanschlag auf die Maschine der Fluggesellschaft UTA im September 1989, bei dem 170 Menschen starben, nicht strafrechtlich verfolgt werden kann. Das Gericht hob die Entscheidung der Vorinstanz auf, wonach Oberst Gaddafi als Staatsoberhaupt keine diplomatische Immunität genieße.

Der Sprengstoffanschlag auf eine Diskothek in Berlin im Jahr 1986

Im November befand ein Berliner Gericht, dass Mitglieder des libyschen Geheimdienstes den Sprengstoffanschlag auf die Diskothek La Belle geplant hätten, bei dem 1986 in Berlin zwei US-Soldaten und eine Türkin getötet und über 230 weitere Personen verletzt worden waren. Ein libyscher Diplomat, ein palästinensischer Mitarbeiter der damaligen diplomatischen Vertretung Libyens in Ostberlin und ein weiterer Palästinenser sowie dessen deutsche Ehefrau wurden im Zusammenhang mit diesem Sprengstoffanschlag zu Haftstrafen von zwölf bis 14 Jahren verurteilt.

Folterungen und Misshandlungen

Es wurden weitere Berichte über Fälle von Folterungen und Misshandlungen aus früheren Jahren bekannt, in denen keine unparteiischen und gründlichen Untersuchungen stattgefunden haben.

Im Oktober forderte der Äthiopische Menschenrechtsrat, eine äthiopische Nichtregierungsorganisation, in einem Schreiben an die libyschen Behörden eine Untersuchung von Vorwürfen, wonach 1997 acht äthiopische Gefangene gefoltert worden waren. Diese hatten berichtet, mit Elektroschocks gequält worden zu sein.

Fälle von »Verschwindenlassen«

Der Verbleib mehrerer Menschen, die in den vergangenen Jahren »verschwunden« waren, blieb ungeklärt.

Familienangehörige des Imam Moussa al-Sadr, eines prominenten, im Iran geborenen schiitischen Geistlichen aus dem Libanon, der während einer Reise nach Libyen im Jahr 1978 »verschwunden« war, reichten bei einem libanesischen Gericht Klage gegen die libyschen Behörden ein.

Soweit bekannt, haben die libyschen Behörden keine konkreten Maßnahmen eingeleitet, um das Schicksal des libyschen Menschenrechtlers und Oppositionellen Mansur Kikhiya zu klären, der im Dezember 1993 in Kairo dem »Verschwindenlassen« zum Opfer gefallen war. In Berichten hieß es, Mansur Kikhiya sei an die libyschen Behörden ausgeliefert und im Januar 1994 hingerichtet worden.

Todesstrafe

Gegen mindestens acht krimineller Handlungen schuldig gesprochene Menschen wurde die Todesstrafe verhängt. Hinrichtungen haben, soweit bekannt, nicht stattgefunden.

Im Mai wurden zwei Libyer, ein Ghanaer und vier Nigerianer vom Volksgerichtshof in Tripolis in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Sie waren für schuldig befunden worden, »gegen die Politik Libyens und dessen führende Rolle in Afrika eine Verschwörung geschmiedet, das Ziel der Libyschen Dschamahirija, ein vereintes Afrika zu schaffen, unterminiert und die öffentliche Ordnung gestört zu haben«. Die Nigerianer und der Ghanaer wurden außerdem des »Diebstahls und des Mordes an libyschen Staatsbürgern« für schuldig befunden. Die Anklagepunkte standen im Zusammenhang mit gewalttätigen Ausschreitungen im September 2000, in deren Verlauf zahlreiche Afrikaner aus der Sub-Sahara-Region getötet worden waren. Die libyschen Behörden versicherten, dass den in diesem Prozess verurteilten Personen das Recht auf Berufung gewährt würde.

Missionen von amnesty international

Zwei Delegierte von amnesty international nahmen an der 29. ordentlichen Sitzung der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker teil, die im April in Tripolis stattfand. Bei dieser Gelegenheit trafen sie auch mit libyschen Regierungsbehörden und Vertretern ziviler Einrichtungen des Landes zusammen. Wiederholte Anfragen von amnesty international, Prozessbeobachter nach Libyen entsenden zu dürfen, wurden von den libyschen Behörden nicht beantwortet.


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